Editorial, Jean-Claude Thümmel: Unsichere Zeiten !?
Editorial, Jean-Claude Thümmel: Unsichere Zeiten !?

Wie gewohnt etwas Historie zum Aufwärmen. Im Jahre 2008 fand in Jena der 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie statt. Das Thema dieses Treffens das schon zum dritten Mal in der berühmten Stadt Jena stattfand hiess „unsichere Zeiten“. Unsichere Zeiten gesehen in einem Rahmen gesellschaftlicher Transformationen in sowohl der national wie europäisch relevanten Geschichte. Aber auch eingebettet in eine Betrachtung des Ideologie- und Wertewandels. Dem deutschen Verlag für Sozialwissenschaften nach, war bei der Diskussion des Kongressthemas von Beginn an geplant, den „langen Atem“ historischer Entwicklungen spürbar zu machen. Es sollte somit von vorne herein ausgeschlossen werden, dass die gegenwärtigen unsicheren Zeiten als Ausnahmezustand begriffen werden und somit zu einer einzigartigen, so nie dagewesenen Krise hochstilisiert werden. Die Teilnehmer an diesem Kongress mussten sich eine ganze Reihe von Anfeindungen gefallen lassen.
Auch weil die griffige Formel, dass die „Welt nie mehr so sein werde, wie sie bisher war“ angesichts der Analysen stark unter Druck geriet. Weil aber mit eben dieser beliebten und von den Medien überstrapazierten Pathosformel sich so ziemlich alles erklären liess, wurde in genau diesen Medien genau so wenig über die Erkenntnisse dieses Standards setzenden Kongresses berichtet. Wieso das hier von Belang ist? Ganz einfach, weil der Mainstream weiter auf dieser defätistischen Welle schwimmt. Es macht sich immer mehr unter den Leuten die Erkenntnis breit, alles sei vorgegeben. Den Lauf der Dinge könne man halt nicht beeinflussen und die da oben werden es schon richten. Nun, das klappt auch nicht immer wie wir wissen. Aber zurück zum Thema Unsicherheit! In Zeiten sich verstärkender sozialer Unsicherheit und Ungerechtigkeit ist es nur normal, dass die Menschen nach einer Kompensation in Sachen Sicherheit suchen und bereit sind simplistische Modelle schnell und ohne diese Modelle zu hinterfragen, zu akzeptieren. Das ist an und für sich nicht neu. Das hat schon öfters funktioniert. Und wird wohl auch in Zukunft funktionieren. Weil es ein absolut typischer menschlicher Reflex ist. Eben ein Reflex. Keine komplett rationale Handlung also.
Hinterfragen
Und damit wären wir beim Thema. Das verhinderte Blutbad im Thalys-Zug welcher von Amsterdam nach Paris unterwegs war. Was war geschehen? In Kurzform nochmals die Ereignisse an jenem Freitag, 21. August. Ein 26jähriger Mann marokkanischer Abstammung bedroht mit einer Pistole, einer Kalaschnikow und einem Teppichmesser die Passagiere des Schnellzuges. Das beherzte Eingreifen dreier junger Amerikaner die zufällig im Zug sassen verhinderte ein Blutbad.
Der Angreifer konnte überwältigt und somit Schlimmeres verhindert werden. Der Schütze war nach Medienberichten mehreren Geheimdiensten bekannt und soll kürzlich in Syrien gewesen sein, so die Presse. Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten. Der französische Innenminister bezeichnete die Attacke als „barbarische Gewalt“. Die Antwort auf diesen Anschlag müsse entsprechend sein. Ein kurzfristig anberaumtes Ministertreffen in Paris rund eine Woche nach dem vereitelten Anschlag, versammelte europäische Innen- und Verkehrsminister aus Belgien, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, der Schweiz und Spanien. Die vorgeschlagenen Gegenmassnahmen gehen von bewaffneten Patrouillen in den Zügen über Personen- und Gepäckscanner an den Bahnhöfen bis hin zur erweiterten Datenvorratsspeicherung und identitätsbezogenen Fahrscheinen. Gut gemeint, sicherlich! Aber teilweise an der Realität vorbei wie die Vorsitzenden der vier deutschsprachigen Eisenbahngewerkschaften in einer gemeinsamen Pressemitteilung hervorhoben.
Wenig hilfreich
Vida, SEV, EVG und Landesverband bezeichnen die Vorschläge der EU-Minister als dürftig, wenig hilfreich und an der Lebenswirklichkeit vorbei zielend. In der Tat, nach diesem sicherlich alarmierenden Anschlag, müssen wir gemeinsam über geeignete Sicherheitsmassnahmen diskutieren. Dem verschliessen sich die vier Gewerkschaften sicherlich nicht. Es ist auf der anderen Seite aber bedauerlich, so die vier deutschsprachigen ETF-Gewerkschaften, dass bis zu diesem Anschlag die berechtigten Sorgen der Kolleginnen und Kollegen in den Zügen und im Servicebereich von den Verantwortlichen bislang weitgehend ignoriert wurden. Es ist eine Tatsache, dass in einigen europäischen Ländern Züge ohne Zugbegleiter unterwegs sind. Oder Servicepersonal in Personalunion gleichzeitig Service- und Zugbegleiter Aufgaben übernehmen muss. Wenn über Terrorabwehr in Zügen diskutiert wird, sollte auf keinen Fall der Aspekt der Zugbegleitung vergessen werden. Oder sogar möglicherweise als Ersatz für eine Zugbegleitung mit ausreichendem, gut ausgebildetem und qualifiziertem Personal, dienen. Das wäre sicherlich ein Schritt in die komplett falsche Richtung.
Und in Europa
In Europa gehören auf alle Züge, Zugbegleiter die von ihrer Ausbildung und Qualifikation her ihren eisenbahntechnisch sicherheitsrelevanten Aufgaben zu jedem Moment nachkommen können. Es muss sich ein gemeinsames Grundverständnis im Hinblick auf die Mindestbesetzung und den Personaleinsatz auf Zügen herausschälen. Abrunden würde das Ganze eine europaweit einheitliche Definition aller sicherheitsrelevanten Bahnberufe. Die europäische Transportarbeiter Föderation, ETF, wird die europäischen Verkehrsminister mit Nachdruck dazu auffordern, hierzu bei ihrer Ratssitzung am kommenden 8. Oktober in Luxemburg, unmissverständlich Position zu beziehen. Luxemburg kann in dieser Frage als gutes Beispiel dienen. In den 2009 abgeschlossenen Dienstleistungsverträgen zwischen dem Staat und der nationalen Eisenbahngesellschaft ist festgelegt, dass jeder Zug mit mindestens einem Zugbegleiter besetzt sein muss. Qualität, Sicherheit und hohe Sozialstandards statt „race to the bottom“ das muss das Ziel sein!
Jean-Claude Thümmel
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